Sexuelle Belästigung in der Akademie, im Techniksektor und in der Medizin

 

me too.jpg

Sexuelle Belästigung gibt es überall. Die meisten Opfer sind Frauen, doch auch Männer werden belästigt, meist durch Männer. Auch Frauen belästigen sexuell. Da die überwiegende Mehrheit der Belästiger aber Männer sind, erlaube ich mir, im folgenden Artikel für die Täter nur die männliche Form zu verwenden. Täterinnen sind mitgemeint. Seit #MeToo, der Bewegung, die 2017 durch den Weinsteinskandal bekannt wurde, wird offener über sexuelle Belästigung gesprochen und geschrieben und die Opfer werden vermehrt ernst genommen. Dennoch ändert sich in der Realität durch diese Wahrnehmung erst einmal noch nicht viel.

Um mehr darüber zu erfahren, wie sexuelle Belästigung entsteht und weshalb sie meist gedeckt oder gar toleriert wird, lohnt es sich, genauer hinzuschauen, was die Organisationen, in denen sexuelle Belästigung besonders oft vorkommt, gemeinsam haben. Daraus lassen sich auch Schlüsse ziehen, was effektiv gegen diese Form der Benachteiligung und, im schlimmsten Fall, Gewalt getan werden kann. 2018 erschien in der Harvard Business Review (HBR) ein Artikel zum Thema sexuelle Belästigung im Gesundheitswesen. Die Autorinnen arbeiteten spezifische Faktoren heraus, die sexuelle Belästigung in der Akademie, im Techniksektor und in der Medizin begünstigen.

Hauptbedingungen, die sexuelle Belästigung begünstigen, finden sich in allen genannten Organisationen: ein männlich dominiertes Umfeld, in dem vorwiegend Männer Macht- und Autoritätspositionen innehaben, eine verbreitete Toleranz der Organisation gegenüber sexueller Belästigung, hierarchische Abhängigkeit der Studierenden und Habilitierenden von ihrer Fakultät, insbesondere einer einzigen Person (Doktorvater, Professor, Chefarzt etc.) und isolierte Arbeitsplätze wie Labors, Feldforschungsgebiete oder klinische Organisationseinheiten.

In der Akademie erfahren über 50 % der Frauen sexuelle Belästigung. Der Anteil in der Medizin ist noch grösser als der in anderen Wissenschaftsgebieten. In der Medizin kommt zur Belästigung durch Vorgesetzte und Kollegen noch diejenige seitens Patienten und deren Angehörigen hinzu.

Notorische Belästiger sind oft bekannt und werden dennoch nicht sanktioniert. Ich weiss persönlich um einige Belästiger an Schweizer Universitäten und in Schweizer Spitälern, deren Namen immer wieder in Workshops und Coachings genannt werden. Ein paar davon sind überregional bekannt. Erwähne ich diese, manchmal mit, manchmal ohne Namensnennung gegenüber Drittpersonen, löse ich dadurch immer wieder folgende Reaktionen aus: „Das ist schlimm, aber das sind Einzelfälle.“, „Die sind halt so, aber da lässt sich wegen ihres unantastbaren Anstellungsverhältnisses nichts machen.“, „Weshalb wehren sich diese Frauen nicht?“, „Denen schmeissen sich die jungen Frauen aber auch direkt an den Hals.“.

Darauf lässt sich folgendes sagen: Zum einen handelt es sich durchaus nicht um Einzelfälle, was sämtliche Erhebungen belegen. Personen in scheinbar unantastbaren Anstellungsverhältnissen könnten durchaus konfrontiert und sanktioniert werden. Das ist zwar nicht einfach, aber möglich, wenn die Organisation mehr als Lippenbekenntnisse zur Verfolgung sexueller Belästigung bietet. Einzelne Frauen können sich schlecht wehren, weil ihnen in der Regel sofort Mittäterinnenschaft unterstellt wird. Zudem gefährden sie umgehend ihre Karriere, da diese meist vom Belästiger abhängig ist. In den letzten Wochen zeigte ein Fall an der Universität Basel genau diese beiden Konsequenzen deutlich auf. (Für den beschuldigten Professor gilt die Unschuldsvermutung.) Erst wenn sich eine Gruppe von Frauen zusammentut und gemeinsam gegen den Täter antritt, sind echte Konsequenzen möglich.

Täter mit hohem akademischem Rang oder einer Machtposition wie zum Beispiel Chefarzt gelten oft als Stars in ihrem Feld, die die Institution nur ungern verlieren möchte. Interessanterweise wird das „Recht auf sexuelle Belästigung“ auch von der Brillanz des Täters abhängig gemacht. Kürzlich hörte ich über einen bekannten Belästiger die Aussage: „Dabei ist der nicht einmal ein guter Arzt.“ Folglich scheint dieser weniger berechtigt, Frauen zu belästigen als seine fähigeren Kollegen.

Aber wird dies nun alles besser, weil eine jüngere, anders eingestellte Generation von männlichen Machtinhabern heranwächst? Dafür gibt es keine Hinweise. Der Artikel in der HBR zitiert eine Akademikerin dazu: „I still don’t think that the prospect of being sexually assaulted was as bad as watching the next generation of sexual harassers being formed. I think that was the worst part for me.”

Was lässt sich denn nun konkret tun, damit sexuelle Belästigung insbesondere in den genannten Institutionen abnimmt?

Zum einen braucht es eine klar kommunizierte Nulltoleranz der obersten Leitung gegenüber sexueller Belästigung. Dazu reicht ein Satz in einem durch die Human Resources verbreiteten Leitbild oder Wertepapier nicht. Es braucht sichtbare Schritte gegenüber Tätern, die aktiv auch durch die obere Leitung angegangen werden müssen. Es reicht nicht, auf Klagen der Opfer zu warten. Sexuelle Belästigung ist nicht einfach das Kavaliersdelikt eines Machtmenschen, der halt nicht anders kann. Es braucht Meldesysteme und klar definierte Prozesse, die in der Institution bekannt sind und konsequent genutzt werden. Und es braucht ein neues Karrieresystem besonders in Spitälern und in der Akademie, das die Alleinunterstellung des Nachwuchses unter eine einzige Person beendet.

 

Artikel in der HBR:

Van Dis, Jane; Laura Stadum und Esther Choo. 2018. “Sexual Harassment Is Rampant in Health Care. Here’s How to Stop It.” Harvard Business Review (November). https://hbr.org/2018/11/sexual-harassment-is-rampant-in-health-care-heres-how-to-stop-it.

Möchten Sie Ihre persönliche Situation in einem geschützten Rahmen besprechen? Dann buchen Sie bei mir ein Einzelcoaching oder ein Training.

Möchten Sie in Ihrer Organisation Führungsqualität fördern? Mit meinem hoch kompetenten Netzwerk von Spezialisten und Spezialistinnen zu relevanten Themen im Bereich Leadership (Beratung von Geschäftsleitungen, agile Arbeitsformen, New Work, Führungstransformationen, Förderung von Frauenkarrieren, Auftritt und Authentizität) unterstütze ich Sie und Ihre Organisation gezielt in moderner Führungsentwicklung.